„…Jetzt will man die Spitalsärzte dazu zwingen, bei kürzerer Arbeitszeit die gleiche oder sogar zunehmende Spitalsarbeit gewissenhaft zu erledigen, ohne dass das Personal aufgestockt wird…“

Zur Person: Artur Wechselberger wurde in Hall in Tirol geboren und studierte an der Universität Innsbruck Humanmedizin, welches er 1977 mit der Promotion abschloß. Seine Ausbildung zum Praktischen Arzt absolvierte er in Reutte und Innsbruck und eröffnete bereits 1981 eine Praxis. Seit 1990 ist er Präsident der Tiroler Ärztekammer und seit 2012 Präsident der Österreichischen Ärztekammer
Nephro Tirol (NT): Sie sind Tiroler und haben bei den Franziskanern in Hall maturiert. Haben die Franziskaner Ihre Entscheidung Arzt zu werden beeinflusst?
Artur Wechselberger (AW): Damals ist mir das nicht so aufgefallen. Rückblickend könnte es allerdings schon sein, dass der franziskanische Geist der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dort gegenüber den Schwachen und Kranken meine Studienwahl, viel mehr aber anschließend meine Berufswahl zum Allgemeinmediziner beeinflusst hat.
NT: In den 1970er Jahren war es noch schwierig eine Turnusarztstelle zu erhalten. Ihre Ausbildung absolvierten Sie in Reutte und in Innsbruck. Wie hat sich die Ausbildung und Situation für Ärzte in den letzten Jahren verändert?
AW: Ich habe 1977 promoviert und begann zwei Wochen nach meiner Promotion in Reutte mit der Turnusausbildung. Damals gab es einen Ärztemangel. Deshalb wurde der Bettenschlüssel, der die Krankenhäuser zwang pro 15 systemisierten Betten eine Ausbildungsstelle zum praktischen Arzt einzurichten, eingeführt. Die damalige Gesundheitsministerin Dr. Leodolter hatte zudem vom Bund finanzierte Ausbildungsstellen denen angeboten, die bereit waren, anschließend als praktische Ärzte aufs Land zu gehen. Auch Facharztstellen waren, besonders in den kleinern Krankenhäusern, rar. Dies forderte von den Turnusärztinnen und Turnusärzten ein hohes Maß an früher Selbständigkeit. Dabei wurde den jungen Ärztinnen und Ärzten viel Eigenverantwortung zugetraut, in der sie einen großen Teil der Versorgungsarbeit eines Krankenhauses oder einer Station leisten mussten. Mehr als 10 Dienste pro Monat waren oft die Regel. Dafür wurden Bürokratie und Administration klein geschrieben.
NT: Es mangelt eindeutig an praktischen Ärzten. Vor allem auf dem Land. Sie eröffneten bereits 1989 eine Allgemeinpraxis. Wollten Sie immer schon in den niedergelassenen Bereich?
AW: Die Mangelsituation der Siebzigerjahre wiederholt sich gerade. Deshalb müssen wir die jungen Ärztinnen und Ärzte ermutigen Praxen zu eröffnen oder zu übernehmen. Meine Tätigkeit als niedergelassener Arzt geht auf das Jahr 1981 zurück, als ich als Sprengelarzt in Holzgau im oberen Lechtal meine Praxis eröffnete. 1989 übernahm ich dann eine Kassenpraxis in Innsbruck, die ich heute noch betreibe. Ich wollte immer selbständig sein und eine eigene Praxis führen. Ein Entschluss, den ich auch nie bereut habe.
NT: Kommen wir zum Konfliktthema Ärztemangel. In einem Interview mit „Nephro Tirol“ meinte Tirols Landtagspräsident Dr. Herwig van Staa, dass Tirol nach Israel die höchste Ärztedicht aufweist. Wie schaut es nun in der Tat in den nächsten Jahren mit den Ärzten aus?
AW: Hier werden immer zwei Dinge verwechselt: Wir haben an sich keinen Mangel an Ärzten sondern einen Mangel an Ärzten, die bereit sind, unter den gegebenen, ganz schwierigen Bedingungen im Rahmen der sozialen Krankenversorgung in einer Kassenpraxis oder auch auf Dauer in einem Spital zu arbeiten.
NT: In einer Aussendung der NÖ-Ärztekammer wurde uns mitgeteilt, dass es für 18 Kassenstellen nur 4 Bewerbungen gab. Sind Kassenverträage für niedergelassene Ärzte nicht mehr erstrebenswert? In den Städten (Wien) gibt es mittlerweile mehr Wahl- als Kassenärzte?
AW: Ja, die angesprochenen Verhältnisse in Niederösterreich lassen sich auch auf die anderen Bundesländer übertragen. Der mit Bürokratie, Dokumentationspfllichten und mit nichtärztlichen Aufgaben überfrachtete Arbeitsalltag aber auch massive Einschränkungen der Freiberuflichkeit machen den Beruf immer unattraktiver. Denken Sie nur an das jüngst erfundene, gesetzlich verordnete „Mystery Shopping“ in Arztpraxen. Falsche Patienten versuchen hier als Kassenspitzel Ärzte hinters Licht zu führen, und zu einer Straftat anzuhalten. Da werden Ärzte und Patienten unter Generalverdacht gestellt, weil angenommen wird, dass Patienten lügen und sich generell Krankenstände oder andere Vorteile erschleichen wollen. Da darf man sich nicht wundern, wenn man keine Kassenärzte mehr findet. Deshalb weichen auch immer mehr Ärztinnen und Ärzte in eine Wahlarztpraxis aus oder gehen gar ins Ausland. Handeln ist also angesagt, um den Arztberuf im öffentlichen Gesundheitssystem wieder attraktiv zu machen.
NT: Schlechte Noten für Wiens Spitäler gibt es auch von den Ärzten. Zeitdruck und Dokumentation beeinflussen offenbar die Arbeit. In den Ambulanzen herrschen offenbar chaotische Zustände? Versagt die Gesundheitspolitik in diesem Land?
AW: Die Gesundheitpolitik musste erst eine Rüge und ein Ultimatum von der EU erhalten, damit endlich die Arbeitszeitbestimmungen für Spitalsärzte umgesetzt wurden. Das hat man über ein Jahrzehnt einfach grob fahrlässig verschlafen. Und jetzt will man die Spitalsärzte dazu zwingen, bei kürzerer Arbeitszeit die gleiche oder sogar zunehmende Spitalsarbeit gewissenhaft zu erledigen, ohne dass das Personal aufgestockt wird. Das ist die Quadratur des Kreises und kann nicht funktionieren. Gleichzeitig wird nichts unternommen, um die Spitalsambulanzen zu entlasten. Denn es fehlen ja auch außerhalb des Spitals die Kassenärzte und das richtige Angebot an Kassenleistungen, um die Arbeit der Spitäler zu übernehmen. Ich befürchte, wir torkeln in ein Chaos, sollte nicht rasch etwas dagegen unternommen werden. Und dazu brauchen wir nicht die theorielastigen Konzepte zur Primärversorgung, wie sie jetzt politisch auf Schienen gebracht werden sollen. Das sind Anleihen aus dem skandinavischen Raum, die bei uns nicht funktionieren können. Da will man die Patientinnen und Patienten aber auch die Leistungserbringer im eigentlichen Sinn „verstaatlichen“ und zentralisieren anstatt ein patientenorientiertes Versorgungssystem, das unsere Gesundheitswesen über viele Jahre als beispielgebend ausgezeichnet hat, weiter zu entwickeln.
NT: Sie haben auch auf die Versäumnisse der Politik hinsichtlich der Gründung von Gruppenpraxen hingewiesen. Uns (Anmerkung: Patientenvertreter) wird hinter vorgehaltener Hand von Ärzten berichtet, dass die Ärztekammer in Wahrheit kein Interesse an Gruppenpraxen habe. Was können Sie uns dazu sagen?
AW: Seit über 20 Jahren versuchen die Ärztekammern der Politik attraktive Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten in Gruppenpraxen abzuringen. Das jetzige Gruppenpraxengesetz ist allerdings rigide, nicht praktikabel und schützt nur die Interessen von Ländern, Krankenkassen und privaten Krankenanstalten. Die Ärztinnen und Ärzte – insbesondere die jüngere Generation – und die Ärztekammern wollen zeitgemäße und flexible Zusammenarbeitsformen. Nicht Gesetze, die den Arzt in seinen Möglichkeiten dermaßen beschränken, so dass eigentlich kein Vorteil für die ärztliche Organsisation und die Patientenversorgung überbleibt. Ärzte sollen Ärzte anstellen dürfen, Ärzte sollen sich mit Kolleginnen und Kollegen der gleichen oder anderer Fachrichtungen zusammenschließen können. Wir benötigen Teilzeitverträge und virtuelle Vernetzungen, wir brauchen eine effektive Basis für die Kooperation und Einbindung anderer gesetzlicher Gesundheitsberufe.
NT: Sie haben auch die Zweiklassenmedizin insbesondere bei den Wartezeiten thematisiert. Naturgemäß für uns Patienten ein wichtiges Thema. Dass es in Österreich eine Mehrklassenmedizin gibt, ist mittlerweile bekannt. Wo sehen Sie das Gesundheitssystem in den nächsten Jahren? Kann der Status quo überhaupt noch aufrechterhalten werden?
AW: Es ist zu begrüßen, dass Ärztinnen und Ärzte, aber auch nichtärztliche Gesundheitsberufe ihre Leistungen auch außerhalb des Kassensystems anbieten können. Das schafft Wahlfreiheit für Patientinnen und Patienten. Eine rege Inanspruchnahme dieser Möglichkeiten und eine breite Abdeckung der Leistungen durch private Krankenversicherungen zeigt, dass dieses Parallelsystem auch von großen Teilen der Bevölkerung gewünscht ist. Nicht wünschenswert kann allerdings eine Ausdünnung des Versorgunsauftrages der sozialen Krankanversicherungen sein. Es ist ein hohes Gut einer Gesellschaft, dass jede Bürgerin und jeder Bürger, ohne Ansehens der Person, des sozialen Status und der finanziellen Möglichkeiten zeit- und wohnortnah die medizinsche Behandlung erhält, die notwendig ist. Dieses Gut müssen wir uns unbedingt erhalten. Da sind sowohl die Kommunen, besonderes aber auch die Krankenkassen gefordert, die schon jetzt dieser Gesetzesauftrag trifft.
NT: Unlängst haben Sie für die Zusammenlegung der 19 Sozialversicherungen plädiert. Sie wollen die Abschaffung der Pflichtversicherung und die Einführung einer Versicherungspflicht. In Deutschland hat die Abschaffung zu einer spürbaren Verschlechterung geführt. Chronisch kranke Patienten werden von den privaten Trägern nicht angenommen?
AW: Da gibt es ein Missverständnis. Ich plädiere nicht für eine Versicherungspflicht mit Beteiligung privater Krankenversicherungen am Wettbewerb, sondern für eine Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger unter den bestehenden gesetzlichen Sozialversicherungen. Nicht die lebenslange, durch eine bestimmte Erwerbstätigkeit begründete Zuordnung zu einer Krankenkasse, sondern die Wahlfreiheit unter den sozialen Krankenversicherungen, wenn mir das Angebot einer anderen besser gefällt, habe ich vorgeschlagen. Und daher sollten sich auch die Krankenkassen um neue Versicherungsnehmer bemühen – durch besonderes Service, attraktive Zusatzangebote beispielsweise in der Prävention oder indem sie ihre Versicherten besonders intensiv im Krankheitsfall begleiten und führen. . Dass dabei auch Bedingungen und Möglichkeiten geschaffen werden müssen, damit nicht einer der Krankenkassen dann nur noch die „schlechten Risiken“ bleiben, gilt es natürlich zu bedenken.
NT: Die Oberösterreichische Ärztekammer hat sich gegen die Zusammenlegung der Sozialversicherungen ausgesprochen. Wie sind hier die Beschlüsse in der ÖÄK?
AW: Wir sind in einem breiten Diskussionsprozess – österreichweit und quer durch alle beteiligten Organisationen, Experten- und Ineressentenzirkel. Dabei muss man sich schon überlegen, ob ein kleines Land wie Österreich 19 Krankenkassen, den Hauptverband österreichischer Sozialversicherungsträger als zentrale Überorganisation und darüber hinaus noch 16 öffentliche Krankenfürsorgeanstalten benötigt. Alles mit verschiedenen Systemen und unzähligen Verwaltungsvorgaben (Beamten und Funktionären). Ziel muss es doch sein, durch eine zeitgemäße Restrukturierung der Krankenkassen mehr Patientennähe und Patientenautonomie und gleichzeitig bestmögliche Versorgungsleistungen zu erreichen und sicherzustellen.
NT: Die Österreichische Gesellschaft für Nephrologie (ÖGN) hat das Projekt „Niere 60/20“ vorgelegt. In zwei Bundesländern (Vorarlberg und Steiermark) wurde es im Landeszielsteuerungsvertrag verankert. In Tirol laufen Verhandlungen. Können wir uns eine Unterstützung der Ärztekammer erwarten?
AW: Mit dem Konzept 60/20 bietet die ÖGN ein Modell, nach dem Patienten bei einer eingeschränkten Nierenfunktion von 60 Prozent einer entsprechenen fachärztlichen Versorgung zugewiesen werden sollen. Zusätzlich ist im Konzept eine umfassende Aufklärung der Patienten über die patientenspezifisch optimale Nierenersatztherapie bei einer Funktionsleistung von weniger als 20 Prozent vorgesehen. Um diese Maßnahmen auch adäquat umsetzen zu können, ist die Einrichtung ausreichender Versorgungseinheiten notwendig. Eine Forderung, die die Ärztekammer für Tirol unterstützen wird.
NT: Wie sieht die Ärztekammer frei gewählte Patientenverbände (Selbsthilfevereine)?
AW: Selbsthilfevereine sind aus einem modernen Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Sie erfüllen bei chronischen Krankheiten einen unschätzbaren Beitrag, um den Betroffenen zu einem möglichst selbstbestimmten Leben bei bestmöglicher Versorgungs- und Lebensqualität zu verhelfen.
NT: Vielen Dank für das Gespräch!
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